Wie sieht eine optimale Behandlung für Suchtkranke aus? Die Psychiaterin Gabriele Fischer diskutiert mit dem Leiter der Wiener Drogenambulanz Hans Haltmayer

Standard: Welche Optionen haben Heroinabhängige, die von ihrer Sucht loskommen wollen?

Haltmayer: Wichtig ist, so viele Drogenkranke wie möglich vom Heroinkonsum und der damit verbundenen Beschaffungskriminalität wegzubekommen. Substitution ist die Therapie der ersten Wahl. Man ersetzt Heroin durch Medikamente. Dadurch stabilisiert man die Patienten, und über die Jahre entwickeln manche den Wunsch nach Abstinenz. Um möglichst viele zu erreichen, ist es wichtig, die Schwelle für so eine Behandlung so niedrig wie möglich zu halten. Wir haben Drogenspezialeinrichtungen, niedergelassene Ärzte, aber auch Kliniken, wo die Medikamente der Substitutionstherapie kontrolliert verschrieben werden.

Standard: Welche Medikamente stehen zur Verfügung?

Fischer: Es gibt keine aktuellen Statistiken für Österreich, die zeigen, welche Medikamente in der Erhaltungstherapie für Suchtkranke genau verschrieben werden. Wir wissen von der Wiener Gebietskrankenkasse, dass zwischen 13 und 17 Prozent der Opioidabhängigen mit Methadon behandelt werden, 20 Prozent mit Buprenorphin, allerdings nicht mit dem sicheren Kombinationsprodukt, das den Missbrauch erschwert und das international empfohlen wird. 65 Prozent bekommen retardierte Morphine, oral.

Standard: In der Behandlung werden Substitutionsmedikamente anders als vorgesehen verwendet, etwa gespritzt, weil dadurch die Wirkung verstärkt wird. Wie sehen Sie die Problematik des Missbrauchs?

Fischer: Eine Suchterkrankung ist psychiatrisch gesehen eine der schwersten Erkrankungen, die es gibt. Es gibt Missbrauch, das ist klar, das ist Teil des Krankheitsbildes. Wichtig ist, in der Behandlung Standards einzuhalten. Denn es gibt nicht das eine, beste Medikament, das die Sucht als chronische Erkrankung mit einem Schlag lösen würde. Wenn Missbrauch Teil des Krankheitsbildes ist, müssen Einrichtungen geschaffen werden, die eine fachlich fundierte, Evidenz-basierte Therapie anbieten. Es gibt derzeit keine einheitlich umgesetzten Richtlinien, nach denen gehandelt wird. Das ist ein Versäumnis der Gesundheitspolitik.

Haltmayer: Um Drogenkranke zu erreichen, brauchen wir aber ein möglichst breites Angebot. Das bezieht sich auf die Substanzen, aber auch auf die Betreuungs- und Versorgungseinrichtungen. Einem Qualitätsniveau müssen alle entsprechen, das ist selbstverständlich. Für Patienten, die sich aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung nicht auf enge, strenge Strukturen wie etwa in einer Klinik einlassen können, muss es aber genauso Hilfe geben.

Fischer: Aber genau darin sehen Suchtkranke Ausweichmöglichkeiten und nutzen sie. Auch das ist ein Teil des Krankheitsbildes. Je klarer die Strukturen, umso leichter gelingt es, diese Patientengruppen zu stabilisieren.

Standard: Wie werden Drogenkranke im Ganslwirt, der sozialmedizinischen Drogenberatungsstelle, die Sie leiten, denn behandelt?

Haltmayer: Patienten, die bei uns andocken, bekommen in der Regel am dritten Tag zum ersten Mal ein Substitutionsmedikament.

Standard: Verpflichten Sie Patienten, auf illegale Drogen zu verzichten?

Haltmayer: Ja, das gehört zum Behandlungsvertrag. Aber es kommt bei jedem Drogenkranken zu Rückfällen. Sie sind Teil des Krankheitsbildes. Auch der Konsum anderer Substanzen, der sogenannte Beikonsum, ist Teil des Krankheitsbildes, und unser Ziel ist, dessen Ausmaß zu reduzieren.

Standard: Was vermitteln Sie über die Risiken des missbräuchlichen Spritzens von Substitutionsmitteln?

Haltmayer: Wir besprechen, wie beim intravenösen Gebrauch HIV, Hepatitis und andere Infektionen vermieden werden. Aber auch die Risiken des schnellen Anflutens und der Überdosierung bei intravenösem Gebrauch. Wir informieren über Alternativen.

Standard: Warum werden viele retardierte Morphine verschrieben?

Fischer: Sie sind der Stammsubstanz Heroin am ähnlichsten. Für einen Teil der Patienten kann es die optimale Therapie sein, aber nicht für alle. Da gilt es ganz genau zu differenzieren. Die psychiatrischen Abteilungen haben sich in den letzten Jahren viel zu wenig zuständig gefühlt. 70 Prozent der Opiatkranken sind bei Allgemeinmedizinern in Behandlung. Dieser Anteil ist angesichts des Schweregrads der Erkrankung zu hoch.

Haltmayer: Die Allgemeinmediziner haben sich immer schon für diese Patientengruppe verantwortlich gefühlt, viele Drogenkranke gehen gerne hin, weil sie gut betreut werden. Ich halte nicht viel von der Diskussion um Zuständigkeiten.

Fischer: Für Suchtkranke ist die Sucht nur das sichtbare, vordergründige Problem, sie haben viele andere psychiatrische Begleiterkrankungen wie Psychosen, Depressionen, viele sind traumatisiert. Man würde doch auch nicht Patienten mit Schizophrenie mehrheitlich von praktischen Ärzten behandeln lassen. Es gibt sicher Patienten, die stabil genug für die Betreuung beim Hausarzt sind, aber nicht in dieser international gänzlich unüblichen Verteilung. Kritisch zu hinterfragen sind Hausärzte in Wien, die 400 bis 600 Patienten pro Monat behandeln. Bei derart vielen Patienten können keine Qualitätsstandards eingehalten werden.

Haltmayer: Es gibt eine Reihe von Fortbildungen zur Substitutionsbehandlung, unter anderem auch von der Ärztekammer. Es gibt Qualitätszirkel, Kongresse, Fachgesellschaften. Das ist in allen Bereich der Medizin so. Das Problem sind jene Kollegen, die daran nicht teilnehmen.

Fischer: Wir haben bei der Behandlung von Suchtkranken aber mit einem riesigen Problem zu kämpfen: 65 Prozent der Patienten bekommen zu ihren Opioiden auch Benzodiazepine dazu verschrieben. Sie sind nicht Teil der Substitution, sondern werden dazu verschrieben, zur Beruhigung. Das ist eine Katastrophe, denn Benzodiazepine machen nach wenigen Wochen abhängig und verschlechtern langfristig den Krankheitsverlauf. Es sind gute Medikamente zur kurzfristigen Anwendung, aber sicher nicht für den Dauereinsatz bei Suchterkrankungen vorgesehen. Sie werden verschrieben, weil Begleiterkrankungen der Sucht nicht erkannt und adäquat therapiert werden. Das ist das Ergebnis eines unkoordinierten Systems.

Haltmayer: Die unkontrollierte Benzodiazepin-Verschreibung sehe ich auch als ein Problem. Da geht es aber um bessere Fortbildung, nicht um Verbote und Kriminalisierung. Es gibt sicher Patienten mit einer Benzodiazepin-Begleitabhängigkeit, und für die brauchen wir tatsächlich therapeutische Antworten.

Fischer: Ich denke, dass hat sich auch durch die Explosion der Verschreibung von retardierten Morphinen im niedergelassenen Bereich eingeschlichen. Das spricht jetzt nicht gegen diese Medikamentenklasse, es muss nur klarer sein, welcher Drogenkranke welche Medikamente bekommt. Da geht darum, Leitlinien der Fachgesellschaften umzusetzen.

Standard: Es gibt auch einen Schwarzmarkt für Morphine. Wie passiert es, dass verschreibungspflichtige Medikamente da hinkommen und gehandelt werden?

Haltmayer: Im Ganslwirt verordnen wir fast ausschließlich die tägliche kontrollierte Einnahme. Die Suchtkranken bekommen ihre Medikamente dann in der Apotheke. Im niedergelassenen Bereich ist das vielleicht weniger streng.

Standard: Bedeutet das, dass Suchtkranke, die Medikamente missbrauchen oder verkaufen, sie sich beim praktischen Arzt holen?

Haltmayer: Nein. Es gibt viele praktische Ärzte, die ihre Patienten so engmaschig betreuen, dass ihnen Missbrauch auffällt. Warum unterstellt man der Patientengruppe der Suchtkranken pauschal, dass sie Medikamente am Schwarzmarkt verkauft? Auch Schmerzpatienten erhalten Opiate in hohen Dosen, und niemand nimmt an, sie würden sie am Schwarzmarkt verkaufen. Die Stigmatisierung, die Suchtpatienten und ihre Ärzte belastet, zeigt sich auch im Gesetz: Die Substitution Drogensüchtiger ist die einzige medizinische Behandlung, die ausschließlich im Strafrecht geregelt ist.

Fischer: Das ist international so. Die Abgabe von Narkotika unterliegt genauen Regulativen, weil es eine besondere Sorgfalt gegenüber der Volksgesundheit gibt. Österreich hat ein sehr liberales System, und wir haben trotzdem nicht mehr als 50 Prozent in Behandlung.

Haltmayer: Das ist der Anteil in Wien, in ländlichen Gebieten ist die Versorgung sehr viel schlechter. Ein Problem besteht in der Politisierung der Versorgung von Drogenkranken. In dieser Diskussion spielen nämlich dann medizinische Kriterien nur noch eine untergeordnete Rolle. Die politische Lage in verschiedenen Staaten bestimmt das Behandlungsangebot so maßgeblich mit, dass die unterschiedlichen Systeme kaum mehr miteinander vergleichbar sind. Wie soll man Länder miteinander vergleichen, wenn nicht in jedem Land dieselben Medikamente in der Behandlung verwendet werden? Das Übertragen eines „besten Medikaments“ oder eines besten Systems“ von einem Land in ein anderes ist daher unmöglich. Es gibt unterschiedliche Substanzen, die da und dort anders abgegeben werden. Aber bei aller Unterschiedlichkeit der Substanzen und Systemen gibt es ein gemeinsames Grundproblem: Und das ist der Engpass beim Zugang. Wir haben ein extremes Stadt-Land-Gefälle, da ist Bedarf für Verbesserung.

Fischer: Es gibt zu viele Stellen, die insgesamt zu wenig koordiniert arbeiten. Das kritisiere ich, weil es besonders für die Behandlung von Suchtkranken kontraproduktiv ist. In Australien werden Suchtkranke schwerpunktmäßig an psychiatrischen Zentren behandelt, die für die Hausärzte auch ein Back-up-System sind. Kooperation halte ich für eine State-of-the-Art-Lösung.

Standard: Besteht eine Unterversorgung?

Haltmayer: Neben dem Stadt-Land-Gefälle gibt es viel zu wenige Einrichtungen, die Drogenkranke, die sich gesundheitlich und sozial stabilisiert haben, in der Behandlung der Begleiterkrankungen betreuen. So gibt es etwa kaum Plätze für Psychotherapie. Spezialeinrichtungen sind überlaufen, und niedergelassene Psychotherapeuten haben entweder keine Kassenverträge und wenn, dann keine freien Kapazitäten. Die wenigsten Drogenkranken können sich eine private Therapie leisten. Und als Back-up für den niedergelassenen Bereich ist die Psychiatrie schon in der Stadt kaum existent – und auf dem Land erst recht nicht. (DER STANDARD Printausgabe, 28.6.2010)