Ein Molekül kann einfach gebaut sein und trotzdem komplexe Wirkung entfalten. Ketamin ist ein Beispiel mit vielseitiger Verwendung. Hilft das Narkotikum vielleicht sogar gegen Depressionen?

 

Ketamin: Dieses amerikanische Präparat ist offiziell nicht für Menschen gedacht

Ketamin: Dieses amerikanische Präparat ist offiziell nicht für Menschen gedacht

20. Oktober 2010

Seinen Aufenthalt im Krankenhaus wird Bradley Weafer nicht so schnell vergessen, auch wenn der neun Jahre zurückliegt. Im August 2001 wurde der Sozialarbeiter im Krankenhaus von Vancouver am Rücken operiert. Die Ärzte gaben ihm Ketamin. Woraufhin dem 38-Jährigen mehr als schwummrig wurde: Er hatte das Gefühl, mit den Füßen voran in einen schwarzen Tunnel gesaugt zu werden. Von da aus sei er geradewegs in den Himmel geschossen, wo er von einer Gestalt, groß wie ein Hochhaus, geblendet und wieder hinab in den Abgrund geschleudert worden sei.

„Ich sah Gott und musste um mein Leben kämpfen“, erzählte Weafer später vor Gericht. Das habe ihn dauerhaft traumatisiert. In zweiter Instanz wurden dem Kanadier 63.000 Dollar Schmerzensgeld zugesprochen.

etamin dient im Krankenhausalltag normalerweise nicht zur unfreiwilligen Erleuchtung, sondern zur Anästhesie. Als Narkotikum wirkt Ketamin rasch und zuverlässig, der Schluckreflex bleibt erhalten, gleichzeitig werden Atem und Kreislauf stimuliert. Es gehört zur Standardausrüstung von Notfallärzten. Eine Betäubung unter Ketamin klingt schnell ab, weshalb sie gern vor kleineren Eingriffen oder schmerzhaften Untersuchungen gegeben wird.

Wären da nicht die Nebenwirkungen

Ketamin ist sogar in der Kindermedizin zugelassen. Selbst bei zehnfacher Überdosierung wurden bislang keine Folgeschäden beobachtet. Auch Veterinärmediziner setzen es häufig ein; die „Hellabrunner Mischung“ beispielsweise, die zur Fernbetäubung von Zootieren entwickelt wurde, enthält zur Hälfte Ketamin. Ein vielseitig verwendbarer Stoff. Wären da nicht die Nebenwirkungen.

Schätzungsweise zwölf Prozent aller Patienten zeigen nach einer Ketaminbetäubung unerwünschte Aufwachreaktionen. Sie berichten von Visionen und anderen bizarren Erlebnissen. Die Fachliteratur spricht von „psychomimetischen Effekten“. Zur Dämpfung wird unter anderem Valium verabreicht.

Für seine halluzinatorischen Begleiterscheinungen ist der Stoff berüchtigt: Unter dem Namen „Special K“ kursierte Ketamin im Vietnamkrieg. Seit Anfang der achtziger Jahre zählt es neben Ecstasy, Speed oder Kokain zu den typischen Partydrogen. Man hätte die Substanz längst geächtet und aus dem medizinischen Verkehr gezogen, wenn sie nicht gleichzeitig so erstaunliche Eigenschaften hätte.

Die Suche nach der Morphium-Alternative

PubMed, die größte öffentlich zugängliche biomedizinische Datenbank, liefert zum Stichwort Ketamin über 11.000 Fundstellen. Immer mehr Autoren widmen sich neuerdings der Frage, ob man Ketamin nicht zu therapeutischen Zwecken einsetzen sollte. Denn im Gehirn wirkt es anders als alle bislang gebräuchlichen Psychopharmaka.

Ketamin ist ein Produkt der Suche nach Alternativen zum Morphium. Das im Opium enthaltene Alkaloid, gewonnen aus dem Milchsaft des Schlafmohns, gilt als eines der stärksten Schmerzmittel überhaupt. Sein Suchtpotential allerdings ist erheblich. In Deutschland ging man deshalb schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts daran, synthetische Abkömmlinge zu entwickeln. Eine Zeitlang galt Heroin als Favorit, bis sich herausstellte, dass es noch schneller süchtig macht. Die Farbwerke Hoechst synthetisierten eine ganze Reihe von Stoffen, unter anderem Metamizol („Novalgin“), das bis heute verschrieben wird. 1939 kam das erste vollsynthetische Opioid Pethidin (Handelsname Dolantin) auf den Markt. Im gleichen Jahr gelang den Hoechst-Chemikern die Synthese der Ersatzdroge Methadon, die von Hitlers Militärärzten als kriegswichtig eingestuft wurde, aber nicht mehr in nennenswerten Mengen zum Einsatz kam.

Die Patentrechte daran sicherten sich die Amerikaner. Ein Zentrum für Forschungen an synthetischen Schmerz- und Betäubungsmitteln entstand an der University of Michigan in Ann Arbor. Dort arbeiteten die Pharmazeuten eng mit dem Arzneimittelhersteller Parke-Davis zusammen.

Kein Psychopharmakon ist vor Missbrauch gefeit

Ein erster aussichtsreicher Kandidat war Phenylcyclohexylpiperidin, abgekürzt PCP. Unter der Studiennummer CI-395 wurde es an Mäusen und Ratten getestet – sie reagierten erregt. Tauben dagegen verfielen in kataleptische Starre, Hunde wiederum ins Delirium. Affen allerdings ließen sich zuverlässig anästhesieren. Versuche an Menschen folgten. Einige Patienten berichteten nach der Narkose von verwirrenden Zuständen. Psychiater erkannten darin Symptome eines akuten schizophrenen Schubs. PCP wurde offiziell fallengelassen. Auf dem illegalen Markt machte es anschließend unter der Bezeichnung „Angels Dust“ Drogenkarriere.

Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass eine an sich vielversprechende Substanz in die falschen Hände geriet. Vor Missbrauch ist kein Psychopharmakon gefeit – schließlich soll es die Stoffwechselvorgänge im Gehirn beeinflussen. Dazu muss es in Wechselwirkung treten mit Stoffen und Rezeptoren, die Lust oder Leid, Euphorie oder Depression, Realität oder Illusion vermitteln. Psychopharmaka sind dadurch definiert, dass sie die Hirnchemie verändern. Eine Substanz, die dort nicht eingreift, wäre keine, die man gegen Gemüts- oder Bewusstseinsstörungen einsetzen könnte.

Die Pharmakologen in Arbor wurden jedenfalls zurück ins Labor beordert, um ein Produkt mit ähnlich betäubender Wirkung wie PCP, aber geringeren psychischen Nebenwirkungen zu finden. Es dauerte nicht lange, und sie hielten ein Derivat mit der Summenformel C13H16ClNO in den Händen, chemisch gesehen ein Abkömmling des Cyclohexans. Sie tauften es Ketamin. Unter der Nummer CI-581 ging es in die Prüfung.

Dissoziative oder einfach psychedelisch?

Die Firma Parke-Davis unterhielt damals ein eigenes Labor im Staatsgefängnis von Jackson. Häftlinge bekamen zwischen 35 Cent und 1,25 Dollar, wenn sie sich an medizinischen Tests beteiligten. Der Anästhesiologe Edward Domino berichtet, wie er am 3. August 1964 zum ersten Mal einem Strafgefangenen Ketamin injizierte. Erst hatte dieser das Gefühl, „irgendwie breit zu sein“. Dann stellten sich lebhafte Träume ein. Die Versuche wurden fortgeführt. Etwa ein Drittel aller Probanden berichtete nach dem Aufwachen von seltsamen Erlebnissen; die meisten hatten den Eindruck, ihren Körper zu verlassen und weit draußen im All zu schweben.

„Das machte die Leute von Parke-Davis natürlich nervös“, erinnert sich Edward Domino, „wenn die Begleiteffekte als schizophrenieähnlich beschrieben worden wären, hätten wir die Sache sofort beerdigen können.“ Bei der Veröffentlichung der Daten einigte man sich schließlich auf die Definition, Ketamin sei ein „dissoziatives Anästhetikum“. Also eines, das nicht nur Schmerzempfinden und Bewusstsein ausschaltet, sondern zur veränderten Wahrnehmung der eigenen Identität führen kann. Bei dieser Bezeichnung ist es geblieben. Es hätte allerdings wenig dagegen gesprochen, Ketamin psychedelische Eigenschaften zu bescheinigen.

Das ist unter anderem auch eine Frage der Weltanschauung. Franz Vollenweider, Leiter einer Forschungsgruppe für Experimentelle Psychopathologie an der Psychiatrischen Universitätklinik Zürich, hat sich viele Jahre lang mit halluzinogenen Substanzen beschäftigt. In Nature Reviews Neuroscience warb er im August für eine vorurteilsfreie Herangehensweise. Ketamin gehört für Vollenweider ebenso wie Psilocybin oder Meskalin zu den aussichtsreichen Kandidaten eines psychedelischen Therapieansatzes. Er knüpft damit an eine Tradition an, die schon abgerissen schien.

Einen großen Bogen um alle einschlägigen Substanzen

Noch in den fünfziger Jahren ruhten große Hoffnungen auf den Psychedelika. Viele glaubten, die dadurch ausgelösten Modellpsychosen würden wertvolle Hinweise auf die Entstehung von Nervenkrankheiten liefern. Teilweise wurden die Arbeiten sogar vom amerikanischen Geheimdienst finanziert; die CIA ließ umfangreiche Testreihen mit Lysergsäurediethylamid (LSD) durchführen, in der Hoffnung, eine Methode zur chemischen Gehirnwäsche zu finden. Studienobjekte, an denen die „Atombombe des Geistes“ erprobt wurde, waren unter anderem Soldaten, Strafgefangene, ahnungslose Krankenhauspatienten und Studenten.

Öffentlich bekannt wurden vor allem die Experimente des Harvard-Psychologen Timothy Leary. Sie sorgten freilich auch dafür, dass die ganze Forschungsrichtung ins Abseits geriet. Anfangs hatte er gezielt versucht, jugendliche Kriminelle durch Psilocybin-Trips von der schiefen Bahn abzubringen. Später ging er dazu über, Halluzinogene wahllos zu propagieren. Als Befürchtungen laut wurden, die Sowjetunion könne in einem psychochemischen Erstschlag das Trinkwasser Amerikas mit LSD versetzen, schrieb Leary im Bulletin of the Atomic Scientist, man solle sich rechtzeitig vorbereiten und schon mal ausprobieren, wie bereichernd so ein Trip sei. Das war dann das Ende seiner akademischen Laufbahn.

Der legale Umgang mit Lysergsäurediethylamid und seinen Verwandten ist seit Ende der sechziger Jahre fast vollständig unterbunden worden. Medizinische oder psychologische Versuche hat es kaum noch gegeben. Die meisten Forscher machen bis heute einen großen Bogen um alle einschlägigen Substanzen. Was auch für Ketamin zutrifft: Wer möchte schon mit einer Droge in Verbindung gebracht werden, von der es unlängst hieß, sie würde ausgeflippte Jugendliche dazu bringen, auf Mallorca-Partys reihenweise vom Balkon zu springen?

Zugleich streng kontrolliert und unverzichtbar

Edward Domino hat den Stoff, den er entdecken half, mit einem wilden Tiger verglichen. Er und seine Kollegen arbeiteten in den siebziger Jahren daran, das Raubtier medizinisch zu zähmen. Die unerwünschten Aufwachreaktionen ließen sich am ehesten durch Tranquilizer unterdrücken. Doch Ketamin hatte den Laborkäfig längst verlassen.

1978 erschien ein Erfahrungsbericht des Psychiaters John Lilly, der sich in einem aberwitzigen Selbstversuch über Jahre hinweg täglich immer größere Ketamindosen gespritzt hatte und darüber offensichtlich paranoid geworden war. Seine Schilderungen verbreiteten sich über die kalifornische Esoterikszene hinaus. Obwohl er Nachahmer ausdrücklich warnte, kam es zu Todesfällen. Die Droge wurde unter den Substanzen aufgenommen, die trotz anerkannter medizinischer Indikation streng kontrolliert werden.

So steht Ketamin heute ebenso unter Vorbehalt des amerikanischen „Controlled Substances Act“ wie auf der Liste der unverzichtbaren Arzneistoffe der Weltgesundheitsorganisation. In Deutschland ist Ketamin verschreibungspflichtig, fällt aber nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Schlagzeilen machte der Stoff zuletzt, als im September 2009 zwei Teilnehmer einer „psycholytischen Therapiesitzung“ unter Anleitung eines Berliner Arztes starben. Er wurde zu knapp fünf Jahren Haft verurteilt. Sein Lehrmeister, der Schweizer Psychiater Samuel Widmer, praktiziert weiter. Der selbsternannte Gründer einer „tantrisch-spirituellen Universität“ hält Ketamin und ähnliche Substanzen für „Sakramente“. Allerdings distanziert sich inzwischen selbst die Schweizerische Ärztegesellschaft für psycholytische Therapie von ihrem ehemaligen Mitglied.

Depressive – ein gewaltiger Markt

Die Ahnenreihe der Forscher, die bislang auf die therapeutische Kraft von Psychedelika setzten, wirkt insgesamt wenig vertrauenerweckend. Hat ein Stoff wie Ketamin da überhaupt ernsthafte Chancen? In den Augen der Pharmahersteller schon. Allein die Datenbank ClinicalTrials listet 15 aktuelle Studien der Phasen I bis IV auf, die sich der Frage widmen, ob Ketamin bei psychischen Störungen helfen könnte. An erster Stelle steht die Suche nach einem Mittel gegen behandlungsresistente Depressionen. Angesichts der Tatsache, dass in den Industrienationen durchschnittlich zehn Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens depressive Symptome entwickeln und fast die Hälfte davon nicht auf die verfügbaren Pharmaka ansprechen, wäre das ein gewaltiger Markt.

Ein neuer Behandlungsansatz ist ohnehin überfällig. Lange Zeit dachte man, bei der Depression handele es sich um eine Art Mangelerscheinung. Nach dieser immer noch gültigen Lehrmeinung werden Glücksgefühle durch Botenstoffe hervorgerufen; wer zu wenig davon produziert, verfällt automatisch dem Trübsinn. Kritiker haben eingewendet, das sei in etwa so, als wolle man die Anwesenheit von Schmerz durch akuten Aspirinmangel erklären.

Doch die Theorie von den Botenstoffen war bislang die einzige, die brauchbare Resultate lieferte. Als genuiner Saft der Freude galt zunächst das Noradrenalin, ein blutdrucksteigerndes Hormon, das in der Nebenniere gebildet wird und im Gehirn als Neurotransmitter fungiert. Später gesellten sich Dopamin und Serotonin hinzu; alle drei Substanzen gehören chemisch zur Gruppe der Monoamine. Praktisch alle Antidepressiva, die im Lauf eines halben Jahrhunderts entwickelt wurden, zielen darauf ab, die Konzentration dieser drei Stoffe im Gehirn zu erhöhen. Doch nur bei gut der Hälfte aller depressiven Patienten führt das zur Heilung. Und wenn, dann vergehen Wochen bis Monate. Selbst moderne Wirkstoffe wie die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer erhöhen zwar in Minutenschnelle die Konzentration des Botenstoffs an den Synapsen der Nervenzellen – der gewünschte Effekt lässt trotzdem wochenlang auf sich warten. Es passt auch nicht ins theoretische Bild, dass manche Mittel gerade dadurch antidepressiv wirken, dass sie die Konzentration der genannten Botenstoffe herabsetzen.

Eine ganze Kaskade biochemischer Ereignisse im Gehirn

„Wir waren zu sehr auf die Monoamine fixiert“, findet der Neuropsychiater Hussein Manji vom National Institute of Mental Health (NIMH), „das hat unser Verständnis für die biologischen Grundlagen von Gemütsleiden nicht gerade vorangebracht.“

Viele Forscher glauben heute, Noradrenalin, Serotonin oder Dopamin würden längerfristig nur auf dem Umweg über weitere Wachstumsfaktoren („brain-derived neurotrophic factors“) dazu beitragen, die Aktivität bestimmter Hirnareale anzuregen. Seit einigen Jahren rückt deshalb ein bekannter, aber bisher vernachlässigter Stoff ins Blickfeld. Es handelt sich um Glutamat, dem Laien in seiner Eigenschaft als Geschmacksverstärker aus dem Chinarestaurant bekannt. Glutamat, oder exakter: Glutaminsäure, spielt im Stoffwechsel des Körpers eine zentrale Rolle. Im Gehirn tritt sie in Wechselwirkung mit NMDA-(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptoren. Und genau an denen greift auch Ketamin an: Es ist ein Gegenspieler des NMDA-Rezeptors, es blockiert ihn und löst dadurch eine ganze Kaskade biochemischer Ereignisse im Gehirn aus. Wo und mit welchen Folgen – das wird erst jetzt deutlich.

Schon Edward Domino hatte anekdotische Hinweise darauf gefunden, dass Ketamin gegen affektive Störungen wirken könnte. Eine seiner Patientinnen war danach süchtig geworden, nachdem die üblichen Antidepressiva versagt hatten. Domino ging der Sache nicht weiter nach. Eine Arbeitsgruppe um den Psychiater John Krystal von der Yale University in New Haven griff die Idee zwanzig Jahre später auf: Sie injizierten einer kleinen Gruppe von schwer depressiven Patienten geringe, deutlich unterhalb der Anästhesieschwelle liegende Dosen von Ketamin. Der Effekt war umso größer: Innerhalb von 72 Stunden verbesserte sich deren Zustand so weit, dass die behandelnden Ärzte es kaum glauben konnten.

Anhaltende Kettenreaktion nach einmaliger Dosis?

Ähnliche Befunde hatte es gelegentlich schon gegeben; chronische Schmerzpatienten berichteten, dass nach Ketaminbehandlung nicht nur ihre Qualen nachgelassen hatten, sondern auch die damit einhergehenden depressiven Anwandlungen. Ursache und Wirkung waren in diesem Fall jedoch nicht auseinanderzuhalten. Die Yale-Forscher lieferten die erste placebokontrollierte Studie, bei der weder Ärzte noch Patienten wussten, wer das Medikament erhielt. Die Dosis war bewusst so niedrig gewählt, dass sich die verräterischen Psychoerscheinungen nach Möglichkeit nicht bemerkbar machten.

Andere Teams wiederholten die Versuche in etwas größerem Rahmen. Sie stellten unter anderem fest, dass die antidepressive Wirkung einer einzigen Ketaminspritze innerhalb von zwei Stunden einsetzt und bis zu zwei Wochen anhalten kann, mit einer Erfolgsrate, die herkömmliche Mittel in den Schatten stellt. Die meisten Patienten hatten nicht mehr auf die üblichen Antidepressiva angesprochen. Im August dieses Jahres wurde in den Archives of General Psychiatry eine weitere Studie vorgestellt, nach der Ketamin äußerst rasche Wirkung auch in den besonders schwer therapierbaren depressiven Phasen einer bipolaren Erkrankung zeigt. Mehr als die Hälfte der betroffenen Patienten hatte nicht einmal mehr auf Elektroschocks angesprochen; sie gelten in solchen Fällen als Mittel letzter Wahl. „Ein derart dramatischer Effekt einer einzigen Behandlung ist bei schweren Depressionen noch nie beobachtet worden“, fasst der Psychopharmakologe Carlos Zarate vom NIMH die Ketamin-Ergebnisse zusammen.

Wie aber kann ein Stoff, der nur eine biologische Halbwertszeit von wenigen Stunden im Körper hat, derart einschneidend wirken? Möglicherweise setzt schon die einmalige Gabe von Ketamin eine anhaltende Kettenreaktion in Gang, durch die bestimmte Nervenverbindungen neu geknüpft oder beschädigte wiederhergestellt werden. In Experimenten an Ratten hat Ronald Duman, ein Kollege von John Krystal in Yale, vor kurzem eine wichtige Station auf diesem Weg ausfindig gemacht: Es handelt sich um ein bereits bekanntes, in allen Säugetieren vorkommendes Enzym („mammalian target of rapamycin“, mTOR), das die Synthese von Eiweißstoffen kontrolliert, die bei der Bildung neuer Nervenkontakte benötigt werden.

Die unerwünschten Nebenwirkungen

„Ketamin wirkt geradezu magisch“, schwärmte Duman, als seine Studie Mitte August in Science erschien. Wenn es um den Einsatz beim Menschen geht, wäre vielen allerdings wohler, wenn weniger Magie im Spiel wäre. In der Praxis wird deshalb an NMDA-Antagonisten gearbeitet, die keine psychischen Wirkungen zeigen. Die Hamburger Biotechfirma Evotec beispielsweise, unterstützt vom Pharmariesen Roche, hat Anfang dieses Jahres mit einer klinischen Studie des Wirkstoffs „EVT 101“ begonnen, der nur die segensreichen, nicht aber die psychomimetischen Eigenschaften des Ketamins besitzen soll.

Doch was wäre, wenn genau diese unerwünschte Nebenwirkung den antidepressiven Effekt überhaupt erst hervorriefe?

Kennzeichen einer schweren Depression sind die tiefen Zweifel des Patienten, sich jemals wieder aus seiner Privathölle befreien zu können. Selbst erfahrene Therapeuten schaffen es kaum, jenen Grad an Freudlosigkeit nachzuvollziehen, der nicht wenige ihrer Klienten in den Suizid treibt – nicht aus Todessehnsucht, sondern nur, damit dieser unerträgliche Zustand endet.

Größere Studien sind auf dem Weg

Zur Entstehung von Depressionen gibt es viele Theorien. Eine davon besagt, dass sie die Folge von Verlusten und Ereignissen sind, die einen Menschen derart erschüttern können, dass sich seine Seele wie auf Eis legt. Ein als euphorisch empfundener Trip könnte einen schwerst Depressiven vielleicht aufrütteln aus seiner lähmenden Apathie. Eine existentielle Erfahrung, wie sie der Kanadier Bradley Weafer unfreiwillig machen musste, könnte schlagartig neuroplastische Veränderungen auslösen, die am Ende den Teufelskreis der Schwermut durchbrechen.

„Das drogeninduzierte Erlebnis und dessen Einbettung in den therapeutischen Prozess wären demnach der entscheidende Mechanismus, durch den sich eine Änderung im Gehirn und im Verhalten erzielen ließe“, schreibt der Züricher Psychopharmakologe Franz Vollenweider. Unverzichtbar sei dabei ein professioneller Rahmen, der den Patienten positiv einstimmt auf die bevorstehende psychedelische Sitzung.

Selbst unter solchen Voraussetzungen würde Carlos Zarate heute noch vom klinischen Einsatz abraten: „Wir müssen erst herausfinden, wie sicher und effektiv Ketamin wirklich ist. Wir brauchen größere Studien.“ Die sind inzwischen auf dem Weg.

Text: F.A.Z.
Bildmaterial: ASSOCIATED PRESS